Montag, 7. September 2009

Ghân-Buch 3 - Die Ghân in Rohan - der Text



Heft 5. NÄHER AN´S WEISSE GEBIRGE UND RÜCKBLICK – WIR KLETTERN ÜBER DEN IRENSAGA-BERG IN GANZ NEUES LAND
(die Gliederung im Buch 1 – http://ghaninrohaneins.blogspot.com )
(Über alle meine Blogs findet ihr eine Liste unter
http://mein-abenteuer-mein-leben.blogspot.com/ )


Ich bitte nun die Leser, ab und
zu in die beigefügten Karten (unten) zu sehen.

Hinter der schmutzigen Gasse geht es auf einem Pfad durch ein Dornenbeeren- und Nesselgestrüpp hindurch und über einen Graben mit Müll und schwarzem stinkenden Schlamm und glitschigen Steinen und Tausenden summender Fliegen, im Wasser sehe ich ganz viele handgroße grün-bunte Blutegel, die mit ihrem langen Wurmleib hin- und herwedeln, am einen Ende festgesaugt, sie suchen wohl nach einer Beute. Und bald sind wir aus Edoras heraus. Ein kleiner Pfad ins Gebirge, ein Nebenweg von Edoras nach Dunharg, damit uns niemand sieht. Die ersten Blumen zwischen den Bäumen, es duftet nun nach Holz und Erde. Eidechsen und Schlangen und bunte Käfer und Heupferde kriechen über den Pfad und Vögel singen, träge fliegen ein paar Fliegende Hunde zu den Fruchtfeldern in den warmen Ebenen – die Sonne scheint durch die hellen Baumwipfel auf den krautigen Waldboden.

Wir kommen nach Stunden zwischen die hohen Berge und gehen auf die große Straße nach Dunharg, die – wie ich in einem Buch las – „ein großes Werk aus Menschenhand ist aus den Jahren, die kein Lied besingt“. Sie führt steil nach oben, gewunden wie eine Schlange. An jeder Kehre hockt ein großer dunkler Stein, der in Gestalt eines Menschen gehauen ist, riesig und grobgliedrig. Er kauert da mit gekreuzten Beinen und hat die Arme über dem Bauch zusammengelegt. Sie alle sehen bucklig aus und heißen deswegen die „Buckelmänner“. Diese Statuen sind stark verwittert, und man kann nicht mehr erkennen, was sie darstellen sollten. Hier weht fast immer ein scharfer Nordwind, und der trägt Sand aus der Ebene herauf, der alles Alte zerlegt und die Statuen abschleift.

Die Randsteine und die Felsen sind hier platt überzogen mit Handteller-kleinen krustigen Pflanzen, blaß-grün, am Rand lappig und aufgewölbt, so daß man drunter sehen kann: da sind die meisten hellgrau und ein paar sind lila. Zwischen diesen Pflanzen hausen Finger-lange hell-orange Schlangen, die sehr gefährlich sein sollen – ein giftiger Stich, und du hast fünf oder sechs Tage lang hohes Fieber und kannst fast nicht sehen. Wir müssen sehr achtgeben!

Doch wir umgehen das engere Gebiet von Dunharg und gehen auf dem Firienfeld so weit nach Norden zum Fuß des Irensaga Bergmassivs bis im hohen Gebüsch ein kleiner Pfad nach oben ins Gebirge erscheint – Mûr findet den Pfad erst nach einigem Murmeln und Suchen und indem er einen alten trockenen Ast langsam durch die Luft hin und her schwingt, aus dessen Spitze etwas wie Knistern und Funken in die Luft stiebt. Wir finden einen klaren Bach im Gebüsch, waschen uns, trinken von dem kristallenen Wasser und fühlen uns wohler und gesünder.

Nicht erkennen kann ich, wie Mûr das mit dem trockenen Ast macht. Ich finde das unheimlich – wie manches an ihm. Mein Denken ist anders ... dennoch muß ich mir zugestehen, daß er mit seinen Mitteln Erfolg hat: wir finden den Pfad, und wir bekommen so frisches Wasser wie nirgendwo zuvor auf dieser Reise.

Durch dichte hohe Wälder mit viel Unterholz, vielen Dornenbüschen und Nesselbüschen steigen wir langsam aufwärts. Nachts schlafen wir unter dem Gesträuch, Wasser finden wir in kleinen klaren Bächen, und wir essen Pilze und Beeren. Mir kommt es vor, als ob Mûr immer jünger wird, hier in der Wald- und Höhenluft, auch ich fühle mich so jung und lebendig wie lange nicht mehr. Meine Kräfte bessern sich, und in der Seele wird es ein bißchen klarer – die Gesundheit und der klare Blick kommen langsam zurück nach diesen schrecklichen Kämpfen gegen Mordor.

Nach einigen Tagen kommen wir auf die Höhe, wir klettern auf einen vorspringenden Felsen, der wie ein Balkon über dem Tal schwebt, und sehen umher. Hinter uns ist noch mehr Wald, der oben in dürre Flächen und nahe der Bergspitze in graue Felsen übergeht. Und wir sehen nach unten: rechts im hellen Licht, fast 2o Meilen weit im Norden, liegt die kreisrunde Hauptstadt Edoras mit dem Palast Meduseld im Mittelpunkt, und dahinter die Tiefebene im roten Dunst, auf der manche der vergangenen Schlachten geschlagen wurden. Wo der Schneeborn-Fluß durch die Ebene fließt, erstrecken sich an beiden Seiten grüne Felder und die Dörfer mit ihren braunen Dächern, dahinter, wo es trockener ist, grau-grüne Weiden für die Pferde. Unter uns liegt das Dorf Unterborn mit seinen schweren silbergrauen Steindächern. Hier leben Holzfäller, Steinbrecher und Wegebauer, aber auch ein paar heimliche Räuber. Sie sind düstere Menschen, selbst ihre Kinder sind nicht so hell wie anderswo.

Links sehen wir das schwarz-düstere Tal, aus dem der weiß schäumende Fluß kommt, der Edoras mit seinen Gärten und Feldern versorgt. Links liegt hinter einem Wald und von hier nicht sichtbar der wüste Platz Dunharg – wie wir Rohirrim sagen – mit seiner Feste, die erst in jüngerer Zeit von uns gebaut worden war. Die Ebene rundherum nennt man das Firienfeld, doch auch das Firienfeld liegt tief im düsteren Schatten der hohen Berge. Und da sind die zwei langen Reihen von schrecklichen Steinsäulen, die zum Steilhang des Dwimor hinführen. Sie müssen sehr alt sein, vielleicht gar nicht von Menschen errichtet. Mûr jedenfalls meint, die waren schon vor uns da – er spricht von seinem Volk –, und wir hatten viel Angst vor ihnen. Mir macht das ganze Tal Angst, es ist so schwärzlich, selten scheint hier die Sonne bis zum Grund – nur mal früh morgens im Hochsommer. Mûr meint, als wir noch da unten wohnten, war es heller, die Felsen umher waren fast weiß und das Himmelslicht wurde von ihnen bis fast in die tiefste Tiefe hineingespiegelt – so sagen unsere Leute jedenfalls.

Ganz links von uns liegt unten die finsterste und schaurigste schwarze Steilwand, die ich je gesehen habe, die fast senkrechte Westwand des Dwimorberges, den sie auch den Geisterberg nennen, sie schließt wie ein großer Trichter das Tal ein, von dem es in das Dunkle Tor geht. Es scheint, daß dort aus felsigen Löchern schwärzlicher Dampf herauskommt, doch er löst sich bald in der Luft auf. Große von einem Fluch verfolgte Schreck-Raben mit zerzaustem Gefieder fliegen da herum. Unter dieser Wand geht es zum Dunklen Tor der Toten, das in die Pfade der Toten führt. Das soll eine lange Höhle, ein Durchgang ins Lamedon in Gondor sein, doch die Lebenden haben diesen Weg niemals benutzt seit die Rohirrim gekommen sind, so heißt es in einem alten Buch, das ich in der Bibliothek gefunden habe. Nur Aragorn, der seit ein paar Wochen neuer König von Gondor ist, und seine Leute haben ihn neulich benutzt um schnell einen Angriff auf Minas Tirith von Süden her zu vereiteln – es soll so grausig in dieser Höhle der Toten sein, daß nur Elben davon unberührt bleiben. Selbst der Zwergenfürst verfiel in schreckliche Angst, heißt es, obwohl diese Leute doch das Leben in den tiefsten Berghöhlen gewöhnt sind.

Links hinten wo die Klamm des Schneeborns ihren Eingang hat, ist auch dieser eigenartige blaue Steinbruch – wir nutzen ihn nie und wir wissen nicht, wer ihn genutzt hat, das muß schon lange her sein. Später werde ich erfahren, daß die Buckelmänner aus diesem Stein gemacht wurden.

Ja, Geisterberg: nicht nur daß diese Höhle der Geister und der Toten unten hindurch führt, sondern der Berg sieht auch von außen ablehnend und grausam aus. An allen Seiten hat er steile Felswände, ... scharfkantige große Steine fallen in unregelmäßiger Zeit aus ihnen heraus, die sich bis tief ins Tal, ja bis in den Schneeborn stürzen. Und hoch oben ist sein kahler und eisbedeckter Gipfel meist von Wolken umhüllt, aus denen seitlich mal hier, mal da schwarze und schwärzlich-rote Fels-spitzen nach oben stechen. Man sagt, daß sie immer wieder ihren Platz wechseln: jedesmal, wenn die Wolken ein wenig zur Seite treiben, ist diese Schar von Spitzen anders zusammenge-setzt. Es soll eine alte Zeit gegeben haben, als hier ein paar Nazgûls brüteten, die unheimlichsten von Sauron´s Kämpfern. Wie riesige schwarze Fledermäuse sahen sie aus – sie konnten zu schlimmen und grausamen Taten abgerichtet werden, hatten aber kein Gefühl oder Mitgefühl. Hoffentlich sind sie nun vollständig ausgerottet. Im Krieg haben sie viele von uns getötet, doch wir haben sie wohl alle vom Himmel geholt mit unseren beschleunigten Giftpfeilen, die extra gegen diese Wesen erfunden und gemacht waren.

Über Dunharg hatte ich in einem Buch der königlichen Bibliothek gefunden, daß dieser Platz, wo jetzt Dunharg steht, das Werk längst vergessener Menschen sei, deren Namen niemand mehr kennt. Auch ist nicht mehr bekannt, zu welchem Zweck sie diesen Platz angelegt hatten, „hier hatten sie sich in den dunklen Jahren geplagt, ehe überhaupt ein Schiff aus Númenor zu den westlichen Küsten kam oder das Gondor der Dúnehain errichtet wurde; und jetzt waren sie verschwunden“. Auch die Reihe von Steinsäulen und die Buckelmänner sollen von ihnen stammen – aber wer weiß schon, wie viele Völker es vor dem uns´rigen hier gegeben hat. Ich erzähle das Mûr, aber er sagt,
es ist wohl so nicht gewesen, schließlich ist es mein Volk, über das da erzählt wird, und wir überliefern die Geschichte anders: Dunharg habt ihr zur Feste gemacht, doch was vorher da stand, war etwas ganz anderes und hieß anders – doch das muß geheim bleiben. Und verschwunden sind wir nicht, wie du bald sehen wirst. Die Steinsäulen sind aber nicht von uns, die waren schon da, als wir hier ankamen, wir wissen auch nicht, wo sie herkommen. Wir haben sie auch nie gemocht. Doch soll es früher schwarze Zauberer gegeben haben, die haben sich diese Säulen zunutze gemacht oder sogar selbst aufgerichtet.

Wir sehen auch von dem vorspringenden Felsen aus, wie sich die Straße vom Schneeborntal heraufschlängelt nach Dunharg. Da sind sie wieder, die steinernen, schwarzen Buckelmänner, die in jeder Kehre sitzen. Mûr sagt:
manchmal, wenn es im Osten dunkel ist und vom Westen der Schein des abendlichen Himmels herunter schimmert, dann strahlen diese Statuen in leichtem durchscheinenden Blau, als ob sie uns eine Wahrheit verkünden wollen. Früher soll das viel stärker gewesen sein, nun sind sie aber vom Wind abgeschabt und haben eine rauhe und dumpfe Oberfläche. Vielleicht sind sie auch von den schwarzen Dämpfen des Dwimor-Trichters besudelt. Ab und zu gehen wir an solchen Tagen, setzen uns an diese Felsplatte und schauen hinunter, erinnern uns an die alten Tage. Oben, in unserem Land stehen noch mehrere von diesen Statuen, und bei jeder haben wir ein Dorf. Da weht der Nordwind nicht so hin, wir haben starke Bäume um alles gepflanzt.

Ein Beutel-Affe schreit im Baum, denn wir stören ihn; er wirft mit kleinen Steinen nach uns, fand sie wohl im Baum oder hat sie in seinem Bauchbeutel hinaufgetragen. Mûr zeigt auf die Buckelmänner und sagt,
so war es früher unten überall, alles voller schöner Leute, Frauen und Männer in Stein gehauen. Und oben bei uns kannst du noch viele von ihnen sehen – sehr schön und rein, in Stein, Holz und Ton.

Das ist mir unverständlich, denn schön sind diese Buckelmänner nicht. Wir steigen weiter und verlassen den Wald hoch oben über dem Schneeborn-Tal.

Kurz vorher begegnen wir einer älteren Wilden Frau mit einem langen Stecken zur Stütze, die einen großen Packen Wolle trägt, sie will es in Dunharg eintauschen gegen andere Dinge, sagt Mûr. Die Frau geht ganz ruhig und gelassen, als wenn dieser Weg und die Last nichts wären. Das sehe ich auch an Mûr, und etwas habe ich es mir auch angewöhnt: ganz ruhigen Schrittes, dabei lange Schritte, wenn es nach oben geht. Mûr sagt,
jeden Schritt tue ganz bewußt, beobachte alle Bewegungen deines Körpers, während du gehst – jedenfalls machen wir das so, sagt er dann noch, sich für seine Lehrhaftigkeit entschuldigend.

Es ist wie ein langsamer, gemessener Tanz, ich stelle mir vor, wie man mit einem solchen Tanz die Natur feiern könnte, ganz hingegeben. Ja, solche Gedanken kommen mir nun manchmal, mir scheint, langsam vergesse ich Rohan und seine Gedanken.

Am fünften Tag kommen wir über den Grat des Irensaga, der hier ganz flach ist, weite Grasflächen, auf denen Antilopen grasen und über denen große Adler und Geier kreisen. Ich bekomme Angst vor den Vögeln, habe den Krieg überstanden und will nicht von diesen Tieren ergriffen und zerrissen werden. Dazwischen gehen wir in Senken durch kleine Wäldchen. In ihnen jagen große gelbe Wildkatzen mit hakenförmigen schwarzen Flecken auf dem Fell, die ihre Opfer vom Baum herabspringend ergreifen – auch als Mensch muß man vorsichtig sein. Mûr tut ganz sorglos, doch er ist sehr wach und dreht seinen Kopf hin und her und schnüffelt in der Luft wie ein Hund. Hier gibt es auch Blutegel, die an Büschen und Grashalmen sitzen und sich an die Beine heften, um ein wenig abzusaugen. Wir lassen sie – es wäre zu mühsam, alle abzulesen, warum auch? Und Zecken versuchen es auch, doch dagegen hat Mûr ein Kraut, das er uns auf der Haut verreibt. Wir ziehen uns dazu aus und verpacken die Kleidung in einen dichten Beutel, denn in der Kleidung könnten sie sich festhaken und man merkt sie erst viel später, und wir wollen keine mit in´s Dorf nehmen.

Nach einigen Stunden gehen wir in eine Hochebene hinein, in eine Steppe, dann in eine dürre Trockenheit aus Sand und Lehm, gehen an ein paar Seen vorbei mit gelb-tonigem Schlamm-Wasser. Am Ufer liegen Schildkröten mit sandgelben und dunkelgrünen Hornschildern auf dem Panzer, in der Mitte zieht sich eine Reihe blaßroter Tropfen-Punkte über den Panzer-Rücken. Ein paar Bäume mit grauem Laub stehen noch, viele trockene Baumstämme liegen aber umher, auf denen bucklige grau-blaue Reiher mit gefährlichen gelben Schnäbeln hocken, sie sehen traurig aus. Es ist hier schwer zu gehen, sandig und staubig. Einige Bäume haben große blaß-blaue Blüten, die eigenartig hier in dieser Staubigkeit aussehen. Es ist ganz still, kein Wind, kein Vogelschrei, selten das Plätschern einer Schildkröte oder eines blassen Frosches oder das Klappern der großen Libellen.

Wie wir durch einen der Lehmteiche waten, beißt mich etwas in den Fuß-Spann – eine große Schildkröte haftet sich fest und beginnt mir Blut abzusaugen. Mûr geht weit vor mir und hört nicht mein Rufen. Ich will das Tier abreißen, doch es geht nicht. Ich sitze am Ufer und bin verzweifelt, was kann ich tun? Die Kröte saugt immer weiter und scheint das zu genießen. Plötzlich kommt ein grau-blauer Reiher angeflogen, landet ganz kurz und reißt mit einem Ruck die Schildkröte ab und fliegt weg. Ich sehe noch, wie er hochsteigt und seine Beute auf einen großen Stein fallen läßt, wobei ihr Panzer birst und ihre Eingeweide umherfliegen – und mein kostbares Blut ist nun gar nicht mehr kostbar, es fließt aus dem Magen der grausigen Schildkröte in den Sand.

Mein Fuß ist nun offen und die Wunde blutet heftig. Mûr kommt zurück und reibt ein anderes Kraut in die Wunde, die schnell aufhört zu bluten. Er sagt, wenn die Schildkröte von selbst abgefallen wäre, vielleicht nach langer Zeit, dann wäre das Blut sofort geronnen und die Wunde hätte sich verschlossen. In diesem Fall aber muß man den Blutfluß mit diesem Kraut hemmen. So ist das bei einigen blutsaugenden Tieren, auch bei den Egeln, sagt Mûr.

An einem blaßgelben Felsen ist eine große Ritzzeichnung, die ein einsames Nashorn in einer öden Landschaft darstellt, das Horn ist in der Mitte abgebrochen und die Spitze hängt an einem Hautfetzen herunter – ich kenne Nashörner nur aus Büchern und habe nicht gewußt, daß es hier welche gibt oder gab. Mûr weiß nichts darüber, weiß nicht, wer die Zeichnung gemacht hat und was sie bedeutet. Das Nashorn sieht traurig und müde aus – wenn man das überhaupt sehen kann.

Manchmal kommt eine kurze trockene Brise, Staub wirbelt auf, der unangenehm faulig schmeckt, ein röhrendes Geräusch wie von den Wüstengeistern, ein Schwarm kleiner dunkelroter Vögel flattert hilflos mit – dann wieder die lange Stille und das Sonne-Brennen und in der Luft stehender rötlich-gelber Staub. Die Flügel einer blassen Libelle klappern laut.

Eine andere, gelbe Libelle fliegt auf Mûr´s Kopf los und ich fürchte schon, daß die Libelle ihn angreifen will. Er sieht sich nach ihr um und die Libelle steht flatternd vor seinem Ohr in der Luft. Nach ein paar Sekunden fliegt sie weg. Mûr sagt kurz, eine Nachricht. Wir sollen hier übernachten. Wir legen uns unter einen der umgestürzten Baumstämme und bleiben über Nacht. Bald kommt ein schrecklicher Sandsturm, und ich bin froh, hier im Schutz der Stämme zu sein.

Am nächsten Morgen geht es weiter. Eine staubgelbe Windhose zieht durch den Sand und wirbelt braune Laubreste hoch. Auf einem umgestürzten Baum sitzt einsam ein eingestaubter Ghân und spielt ein großes Saiteninstrument, eine Gardar, wie Mûr sagt. Das Spiel ist melancholisch und klingt hohl, traurig. Doch ich mag diese Musik, sie ist wie aus einem fernen Land. Der Spieler sieht uns und spielt weiter, nun wird seine Musik lebhafter, und eine leichte Trommel beginnt – ich sehe sie nicht, aber sie klingt ganz klar und nahe. Mûr sieht mein Suchen und erklärt,
da ist keine Trommel, die Gardar holt diesen Ton aus der Luft, wenn sie ihn braucht. Der Spieler ist nur dazu da, die Saiten zu schlagen, sonst nichts. Die Gardar ist traurig, der Spieler nicht, er ist ein sehr fröhlicher Mann. Aber die Gardar ist sehr sehr alt und kennt noch schönere Zeiten, die sie vermißt. Das sagt uns ihre Musik.

Mûr sagt,
das hier war früher auch schöner lebendiger Wald – aber die Rohirrim verbrauchen ja alles Wasser, nun wird es hier oben trocken. Bald werden sie hier kein Wasser mehr abschöpfen können.

Die Rohirrim, das ist mein Volk, das sind die „Herren von Rohan“, die Herren von dem „Land der Pferde“. Ja, wir brauchen viel Wasser und leiten es in Sammelgräben nach unten, bevor es in den Boden einsickern kann, oder wir graben in dreiviertel Höhe des Berghanges tiefe Rohrnetze waagerecht hinein um das Wasser abzuzapfen, es läuft dann schnell weg und zieht weiteres Wasser nach. Wir sind viele Menschen, und wir haben eine große Landwirtschaft, züchten Pferde und treiben viel Handwerk, alle verbrauchen Wasser. Besonders die Waffenschmieden verbrauchen Wasser – und wir brauchen doch die Waffen wie dieser Krieg wieder zeigte. Wir brauchen das Wasser schließlich – was sollen wir anderes tun? Wir benötigen doch das Wasser zum Überleben! Wie ich das sage, lacht Mûr, ich weiß nicht warum, und er erläutert:
zum Überleben, sagst du? Wäret ihr denn sonst tot? Seid ihr wirklich so gefährdet? Muß man das so sagen? Ich glaube, ihr macht euch da was vor mit dem blinden Gebrauch von Wörtern, ja, blinder Glaube an Wörter, so müsste man wohl sagen.

Drei weitere Tage gehen wir mühsam durch den gelb-braunen Staub bis wir wieder an Grünes kommen. Nachts ist es sehr kalt, und wir schlafen unter umgefallenen Bäumen, die überall herumliegen und uns noch in ihrem Tod beschützen. Diese Gegend ist unheimlich, sie erinnert mich an den gefürchteten Tod während des Krieges. Hier ist er wieder, der Tod. Meine Träume sind unruhig und oft wache ich auf und schreie. Die Bäume liegen hier wie gefallene Soldaten nach einer verlorenen Schlacht – alles ist vorbei für sie. Wenn ich das sehe, muß ich oft weinen.

In dieser Gegend werde ich in Träumen in dunkle Erdgänge in die Tiefe gestoßen, aus denen es keinen Weg mehr hinaus gibt – doch am Ende nimmt mich jemand an die Hand und leitet mich wieder ans Licht. Es sind die Orks und diese schwarzen fliegenden Schatten, die Nazgûls, die mich mit gellendem Schrei hinabstoßen, und es ist unsere junge Prinzessin Éowyn, und andere Frauen, die mich wieder herausziehen.

Am Morgen sehe ich im Südosten und Süden die Schnee- und Eisberge des Ered Nimrais – das Gebirge der Weißen Hörner heißt das wörtlich übersetzt –, die man auch von der Ebene aus sieht. Sie sind noch viel höher, spitz und abweisend. Nur wenige Rohirrim würden da je hingehen. Selbst von der Gegend, in der wir nun sind, hat mir noch nie jemand berichtet. Kaum jemand bei uns weiß, wie es hier oben ist.


Heft 6. DIE HOCHEBENE DER GHÂN – DER BLICK WEITET SICH
– ja, die „Hochebene der Ghân“, so werde ich bald die vor mir liegende langgestreckte Ebene nennen, an die rechts das Weiße Gebirge und links die niedrigen Vorberge und die große Tiefebene grenzen.

Nach einer letzten frostigen Nacht unter trockenen Baumstämmen kommen wir schließlich an diese Hochebene, in die wir hinabgehen; sie erstreckt sich vor mir so lang, daß ich das Ende nicht mehr sehen kann. Da unten ist es wieder grün, Tiere erscheinen, ja eine Herde ungezähmter Olifanten sehe ich in der Ferne.

Bild 4: Mein erster Blick in die Hochebene der Ghân – von Nordwesten.

Diese ganze lange Ebene ist im Nordwesten und – jedenfalls so weit ich sehen kann – im Nordosten von dem wüsten Baumfriedhof umgrenzt, den wir drei Tage lang durchquerten. Im Süden stehen die Eisberge, die schnee- und eisbedeckten Gipfel sind wohl noch viele Tagesreisen entfernt. In dieser Hochebene vor uns steht kein dichter Wald, sondern es ist Grasland mit kleinen Wäldchen, die so klein sind, daß man sie in einem halben oder ganzen Tag gemächlich umgehen kann. Vor uns blühen viele bunte Blumen, diese Blumenpracht ist so intensiv wie ich es noch nie sah. Und immer wieder ragen große Steine aus dem Grün, mit großer Fantasie geformt, mit vielen Löchern und Ausbuchtungen – wer das wohl gemacht hat? Mûr murmelt nur, was geht uns das an? Die Steine sind nun mal so, sie sind einfach so, was sonst? Ich habe meine Freude daran, wie sie aussehen, mehr will ich nicht.

Von einem erhöhten Platz aus sehe ich nach hinten weit weg im Nordwesten, rechts neben dem Starkhorn und zwischen den anderen westlichen Gipfeln der Weißen Berge hindurch und jenseits der Ebene die südlichen Ausläufer des Nebel-Gebirges Hithaeglir, wie matte dunkle Schatten. Es trennt das Westland vom Osten, und nordwärts soll es weit bis in die Eisländer hinreichen, habe ich in der Schule gelernt.

Auf dieser Hochebene sind kleine Seen und Flüsse. Mûr sagt, an dieses Wasser kommen die Rohirrim nicht heran, es bleibt unseres. Früher wohnten wir auch da unten wo ihr jetzt lebt, aber dann kamen die Rohirrim und drängten uns hier hinauf. Sie wissen kaum, daß es uns gibt. Viele von uns wohnten auf dem Firienfeld und hatten an der Stelle eine heilige Stadt gebaut, wo heute euer Dunharg liegt, und wir hatten die große Straße, die sich von unten nach dem Firienfeld hochschlängelt, und die blauen Statuen, die ihr die Buckelmänner nennt, errichtet. Und noch viele andere schöne Dinge hatten wir. Es muß das Paradies gewesen sein – aber wie es so geht ... sagt er mit etwas Trauer. Und weit in die Ebene reichte unser Land, wir nannten es damals Kalenon (das ist heute Calenardhon bei den Gondor- und Rohan-Leuten) bevor die Rohirrim kamen, aber wir hatten es nicht so bebaut wie ihr. Wir hatten auch nur wenige Pferde, waren ja auch nicht viele Leute. Unser Volk war klein – wenn auch größer als heute.

Ja, sage ich, wir kümmern uns nicht um das Vergangene. Ihr wollt uns vergessen, ihr wollt vergessen, wie viel Unrecht ihr getan habt, sagt Mûr. Tief in mir fühle ich, daß das stimmt, und es wird mir schlecht.

Du mußt dich nicht schämen, das war früher, und das Leben geht oft solche Wege, so ist das eben.

Nun beginnen Felder und Gärten zwischen Hügeln und Wäldchen. Wir durchwaten einen Fluß mit klar-bläulichem Wasser. Hier ist die Stimmung ganz anders als vor zwei Tagen. Wir schwimmen in dem Fluß und werden von großen Echsen begleitet und angesehen. Mûr sagt,
das sind die Calendile, sie heißen so, weil sie Grünes essen. Selbst die größten Calendile sind für Tier und Mensch harmlos – sieh dir ihre Zähne an, wie bei Kühen. Du kannst sie anfassen. Ich streiche einem kleineren Calendil über den Leib und habe ein gutes Gefühl. Sie sind freundlich und knacken mit ihren Gelenken, wenn sie schwimmen. An ihrer Haut finde ich Parasiten, kleine Insekten, die ich ihnen abnehmen will, doch Mûr sagt,
laß sie lieber dran, vielleicht wollen die Calendile sie sogar haben?
Ich sage, das sind doch Parasiten, und man kann die Calendile doch davon befreien, doch Mûr meint,
ich jedenfalls fühle mich nicht gerufen, sie abzunehmen. Außerdem sind die Parasiten ebensolche gesegneten Wesen wie jedes andere auch.

Bild 5: Das Starkhorn von Unterborn aus gesehen.

– später wird mir klar, daß es für die Calendile vielleicht wichtig ist, mit den sogenannten Parasiten zusammen zu leben, daß sie sich irgendwie ergänzen und in keiner Weise schädigen.


Heft 7. MEHR GHÂN-LEUTE – ICH LERNE ETWAS ÜBER MICH
Da kommt eine Gruppe von Wilden Menschen, sie wandern zu ihren Feldern sagt Mûr. Während sie wandern, tanzen sie fröhlich einen eigenartigen Tanz, tanzen langsam, schwingen die Arme und Beine und sind ganz unbeschwert, lachen leise und ohne Hast, sie trällern leise Lieder.

Der Tanz sieht wie der Hochzeitstanz der Kraniche aus, die im Frühjahr in die feuchten Niederungen rund um den Schneeborn geflogen kommen um zu balzen und zu tanzen, zu trompeten und schließlich in den wenigen hohen Bäumen dort zu brüten. Im Winter sollen sie in den Sümpfen an der Mündung des Anduin-Flusses leben, weit im Süden, in Belfalas.

Ich möchte nun nicht mehr Wilde sagen, nenne sie nach dem Häuptling vom Druadan-Wald „Ghân“. Später höre ich, daß sie sich selbst auch so nennen, und Ghân-buri-Ghân heißt der Heilige Mensch des Ghân-Volkes. Wir treffen uns mit der Gruppe und sie reden miteinander. Wieder beschämt mich was: wie ruhig und gelassen diese Leute sind. Sie reden wenig und sind freundlich zu einander, viel freundlicher und friedlicher und fröhlicher – auf stille Art fröhlich – als die Rohirrim und die anderen Völker, die in der Ebene leben. Und wie sie tanzen! Darüber werde ich mehr berichten, wenn mein erstes Fest kommt.

Alle sind ungefähr wie die Ghân gekleidet, die ich im Steinkarrental gesehen hatte, und die Älteren haben eine solche Schwiele auf der Stirn wie neulich Ghân-buri-Ghân. Die Ghân-Leute berühren und streicheln sich oft gegenseitig und selbst, sie sind sich sehr nahe. Wir Rohirrim halten immer Abstand voneinander, dieses viele Anfassen gilt bei uns als unschicklich, wir mögen das nicht. Als einige Ghân zu mir kommen und mich zur Begrüßung am Rücken berühren, ist mir erst unwohl, mein Körper weicht aus, der Rücken biegt sich nach vorne, ich trete etwas zur Seite. Sie lachen und ich sehe, sie verstehen.

Meistens bewegen sich die Ghân-Leute langsam, doch manchmal, wenn es darauf ankommt, können sie auch schnell sein, zum Beispiel, wenn ein Tier aus ihren Feldern zu verscheuchen ist. Sie haben an verschiedenen Stellen Felder mit Gemüse, sie scheinen die Felder oft zu wechseln, vielleicht in jedem Jahr.

Mûr nimmt einem anderen ein Fläschchen aus der Schärpe – und wieder ist da dieses Dunkelrote, das er mir an verschiedene Stellen des Körpers schmiert, ich ziehe mich dazu aus, schließe die Augen und soll nun berichten, was ich im Geiste sehe: erst tupft er etwas ganz unten an den Bauch, es brennt leicht auf der Haut und auch noch tiefer im Leib, es ist wie wenn ein ganz feiner Stift von der dunkelroten Stelle aus spitz in den Leib vorstößt, ohne Schmerzen, aber fühlbar und etwas angsterregend – ich sehe mit geschlossenen Augen, wie in meinen Beinen ein dunkelroter Lichtschein tief unter mir in die braune Erde dringt. Auch sehe ich, wie meine Füße wie über einem Nest von dunklen Rubinen in der Erde stehen, die mich von unten mit ihrem Licht anstrahlen.

Es ist mir aber auch, als ob diese Lichter überall aus mir herausstrahlen und jeder sie sehen kann. Besonders das unterste strahlt so tief in den Boden hinein, ich fühle mich damit nach unten in der Erde ganz sicher und zuhause, verankert, dort ist meine Heimat.

Dann etwas höher – und das Licht wird mehr orange; dann noch etwas höher – das Licht wird gelb und alles ist voller Kraft.

Doch nun ist mir nicht mehr wohl dabei – warum lasse ich das alles zu? Werde ich vielleicht überwältigt mit dieser Methode, vielleicht verzaubert, ohne daß ich noch Einfluß nehmen kann? Ich fühle, wie meine Kraft angegriffen wird. Bin ich vielleicht schon unter dem Einfluß dieser fremden Ghân, bin ausgeliefert? Ich will schon abbrechen, doch mache ich weiter mit – wieso eigentlich? Ich müsste das Ganze mal überdenken können – aber es geht so schnell. Ich könnte schreien, halt, halt, laßt mich mal überlegen, doch da ist auch ein tiefes unbekanntes Sehnen, das alles zu erleben, so mache ich weiter mit, – ein Sehnen, mich hinzugeben, los zu lassen.

Nun tupft Mûr etwas Dunkelrotes in die Mitte meiner Brust – das Licht wird gelb-grün – in alle Richtungen des Raumes strahlt es. Ich sehe plötzlich, was in Edoras – meine Heimat! – und an anderen Orten gerade los ist, habe eine starke Zuneigung zu den Leuten dort, möchte sie umarmen (obwohl das nicht unsere Rohirrim-Art ist), werde froh, daß ich da überall hinsehen kann.

Da drängt sich plötzlich wieder wirres Kriegsgeschrei nach vorne, all die erschlagenen Menschen und die schrecklichen Orks, wie die großartigen Elben da erschlagen liegen, und wie die schrecklichen schwarzen fliegenden Schatten den ganzen Himmel bedecken – und alles wird wieder grau und schwach und schmutzig und voller dunkler Trauer und Angst. Meine Seele und mein Körper zittern und können nicht aufhören. Ich lege mich hin. Mein Gesicht zieht sich zusammen und ist düster. Die anderen kommen und legen ihre Hände auf meinen Körper, langsam wird es ruhiger in mir.

Mûr muß von vorne anfangen, sagt, ich soll liegen bleiben und ausruhen. Ich muß leise weinen, dann vergeht es wieder, und Mûr beginnt von vorne – ganz unten, aber nun berührt er auch noch meine Fußsohlen, Kniekehlen und das untere Ende des Körpers zwischen den Beinen mit dem Dunkelroten.

Die anderen stehen daneben und fassen leicht an meine Hände, die Hüften und die Schläfen. Leise summen sie dazu, und die Kinder streichen meinen Körper sanft und liebevoll. Ich muß weinen, vor Trauer – und vor Freude über das, was jetzt ist.

Etwas später streicht Mûr mir vom Dunkelroten an die Kehle, erst vorne, dann hinten im Nacken. Ich sehe dunkles blau-grünes Scheinen; das Weinen wird stärker und drängt hinaus, weitet sich, denn ich sehe nun etwas Klares und Schönes, das mich überwältigt: Blau-Grünes rund um mich herum. Es wird heller in mir, auch außen – es ist als wenn ich selbst in dieser Helle lebe, selbst diese Helle bin, als ob alles strahlt!

Ich möchte nun aufhören – es ist genug, was will ich noch mehr? Da sind so viele Gefühle, ich habe keine Kraft zu noch mehr. Aber Mûr sagt,
steh´s durch und geh bis an´s Ende, es lohnt sich, du bist gleich da, aller Ärger, alle Begierden, alle Täuschungen werden dann verweht sein und du siehst die Klarheit, die auch wir sehen – unser Meister hat sie uns gezeigt.

Ein Tupfen Dunkelrotes wird mir zwischen die Augen gegeben – und alle sind ganz still und erwartungsvoll. Ich stehe auf und schließe die Augen wieder – erst erscheint ein blau-lila Licht außen und innen – und dann blicke ich tief nach innen, was ist da? Ich sehe nichts mehr, was etwas wäre – nur eine große Leere, Klarheit, lichte Einfachheit, vielleicht Bläue wie in einem tiefen See. Ich sehe alles von da aus: innen und auch außen, bin unberührt von dem, was ich sehe, sehe es einfach, selbst der Krieg hat an Schrecken verloren, die Orks und Nazgûls und Tod und Qualen sind einfach da, doch ohne Furcht kann ich sie ansehen – wie von außen ansehen. Doch das ist nur einen kurzen Augenblick lang.

Jemand sagt, jetzt strahlst du ja voller Segen, voller Glückseligkeit – nach innen und nach außen, rundherum strahlt es aus mir heraus.

Zum Schluß bekomme ich etwas Dunkelrotes oben auf den Scheitel, an den höchsten Punkt – und mit einem Knall schießt ein hellblauer Strahl, ein hell scheinendes Licht nach oben – und alle beginnen zu jubeln und zu tanzen und zu singen und umarmen sich voller Glück und nehmen mich in ihre Arme – sie nehmen meinen Körper und heben ihn voller Freude nach oben und jubeln immer weiter.

Die Ghân nehmen mich in ihre Mitte, und es ist ihnen wichtiger, uns zu ihrem Dorf zu geleiten als die Felder zu bestellen.


Heft 8. DAS ERSTE DORF DER GHÂN – DER ERSTE HEILE BUCKELMANN
Der Feldweg führt nun zwischen leichten Hügeln hindurch. Auf den Hügelkuppen stehen Baumgruppen und Büsche, große runde Steine liegen zu Haufen gebracht. In den tieferen Stellen haben die Leute kleine Felder und Gärten angelegt. Bäche fließen in den flachen Tälern, und weil hier der Boden im Sommer sehr trocken ist, wurden Gräben zur Bewässerung gelegt, die sich locker um die Hügel winden. An den Gräben stehen lange Reihen von Bäumen, an denen graue Bausche hängen, die gerade geerntet werden. Es sind die Wollbäume, die wir im Tal auch haben. Aus den Bauschen spinnen die Leute einen grau-beige Faden, der zu Stoffen gewebt wird. Doch viele Tiere verwenden die Bausche zum Nestbau und nehmen viel von ihnen mit.

An einigen Stellen stehen kleine grau-gelbe Lehmhütten mit groben Dächern aus Zweigen und Schilf. Im Hintergrund die hohen weißen Berge, und weil es Abend ist, leuchten sie auf der rechten Seite rot von der tief stehenden Sonne beschienen. Nicht weit fliegen ein paar Adler in Kreisen – „Felsenadler“ sagt jemand – OH, ICH VERSTEHE JA, WAS SIE SAGEN.

Wir alle werden ruhiger, müder, und langsam gehen wir zum Dorf.

Von weitem sehe ich in einer größeren Senke das Dorf liegen, mein erstes Ghân-Dorf. Die Hütten stehen in einer Doppelreihe. Rechts am südlichen Ende der Doppelreihe ragt eine Spitze hoch, etwas Dunkles: es scheint – so unwahrscheinlich das ist – eine große Steinstatue zu sein. Sie steht in einem Hain mächtiger dunkelgrüner Bäume, deren große rote Blüten gerade verwelken. Schnelle dunkle Vögel mit langen spitzen Flügeln sausen in Schwärmen um die Statue und die Bäume, ab und zu kreischen sie laut auf – sie verfolgen sich gegenseitig und haben ihre Freude daran. Doch später, als es dämmert, hören sie auf und es wird stiller.

Das Dorf besteht aus zwei Reihen von wackeligen Hütten und Häuschen – auch hier haben sie die runden unordentlichen Kraut- und Ästedächer, grob beworfene Lehmwände. Steine und Holzäste und Schilf sind die Baumittel, auch viel Lehm. Überall sind kleine Gärten ohne Zäune, nur mit dornigen Büschen gegen Tiere aus den Wäldern abgegrenzt, in einigen arbeiten Ghân. Ich sehe Gemüse auf wirren Beeten, und es stehen dort Obstbäume, die fast wild wachsen, ohne auffällige Pflege. Noch ein paar Vögel und Abend-Schmetterlinge fliegen umher, in die Blütenkelche der vielen Blumen am Wegrand aber haben winzige Vögel ihre langen Schnäbel gesteckt während sie vor ihnen auf der Stelle flattern. Kleine hellbraune wuschelige Schafe blöken gelegentlich, und Kinder spielen ruhig, Hunde, Katzen und andere Tiere liegen umher, es ist stiller als in unseren Dörfern, aber nicht etwa traurig.

Bild 6: Das erste Ghân-Dorf. In der Mitte einer der zwei Wasser-Gräben, der andere liegt tiefer und ist nicht zu sehen.

Wie sie mich sehen, begrüßen uns die anderen Dorfleute, sie lachen leise und mit offenen Gesichtern, singen langsame und helle Lieder und tanzen fröhlich um uns herum ihren gemessenen Schreit-Tanz, den Kranich-Balz-Tanz, sie necken die Zurückgekommenen, daß sie nichts an ihren Feldern und Gräben tun sondern die Gelegenheit eines Gastes zum Feiern benutzen wollen. Eigenartig, ich verstehe die Leute nun, und ich kann auch ihre Sprache sprechen – ohne sie zu kennen.

Mûr nimmt mich in sein Hütte, in der er Feuer macht. Erst kommen noch ein paar Leute herein und sehen mich still und offen an und gehen wieder. Bald liegen wir auf dem Boden, auf Stroh. Eingewickelt in Wolle-Decken bin ich froh, endlich mal wieder unter einem Dach zu liegen und zu schlafen. Ich fühle mich sehr gemütlich hier, sehe ins Feuer und zu Mûr. Es knistert und knackt im Dach der Hütte, sonst ist es sehr still – wie es an den vergangenen Tagen draußen auch war. Selten Stimmen im Dorf, mal ein weinendes Kind ... oder ein leichter Flügelschlag eines Vogels, oder der Laut, wie sich ein Hund kratzt ... die leisen Rufe der Fledermäuse.

Es ist noch morgendämmrig wie ich aufwache und ein leichtes Singen höre. Dort, wo die große Statue steht, höre ich Leute eintönig singen, ab und zu schlägt jemand einen Gong dazu, dann hört das Singen auf und leise spielt eine Flöte. Es ist eine warme und klare Stimmung, und ich freue mich, hier zu sein. Eine so schöne Stimmung – was für ein Gegensatz zu den Wochen vorher, als täglich Schreien, Waffenklirren, Pferdegetrappel und Krieg war.

Wie es heller wird, stehen wir auf und ich will sehen, wo ich bin, gehe vor die Hütte. Es ist ein hellblauer Morgen, von jeder Hütte steigt senkrecht Rauch durch´s Dach hoch. Vögel singen, und in der Luft ist ein Duft nach würzigem Feuer, heißen Morgen-getränken und Blumen. Leute kommen vorbei, sie hatten gemeinsam gesungen, gehen nun in ihre braunen Decken gehüllt heim, fröstelnd, vielleicht freuen sie sich, daß zuhause der Tee fertig und heiß ist.

Ein wenig unheimlich ist mir auch, aber mehr bin ich froh, hier bei diesen seltsamen Leuten zu sein, die so schlicht freundlich sind. Mûr und ich sitzen in seiner Hütte, er verbeugt sich gemessen in eine Ecke hinein, und da sehe ich eine kleine verblichene Holzfigur auf einem flachen Stein stehen, auf dem ein paar trockene Blumen liegen. Ich verbeuge mich auch, ohne zu wissen – doch es ist die Geste meines Gastgebers, der ich respektvoll folge.

Mûr und ich sitzen still eine Weile und sehen ins kleine Feuer, das wieder brennt. Etwas Wasser kocht, und wir brauen uns einen Tee aus mir unbekannten Kräutern. Ein paar Kinder kommen, auch in diese braunen Tücher gehüllt und nippen vom Tee. Sie sehen mich an und mögen sich wundern, doch weiter geschieht nichts. Mûr erklärt ihnen in Kurzem, was mit mir ist, sie sind zufrieden und gehen nach einiger Zeit still wieder raus. Einige berühren liebevoll meinen Oberarm. – In der Morgenstille dieser Duft!

Mein erster Gang durch´s Dorf. Etwas im Hintergrund, am südlichen Ende des Dorfes sehe ich wieder die große steinerne Spitze, die mich schon von weitem erstaunt hatte: es ist der Gipfel der riesigen Statue. Ich gehe zuerst zur Statue und wundere mich über diese eigenartige Figur, sie ähnelt den Buckelmännern an der steilen Straße hinauf nach Dunharg, sie ist aus einem einzigen dunkelblauen, fein weiß geädertem Fels gebildet, sieht ganz neu aus, ganz klar und poliert, wirklich wie neu, sie ist in ganz anderem Zustand als die Buckelmänner, in sehr gepflegtem Zustand.

In den großen Bäumen, die die Statue umgeben, sind viele Tiere: zwitschernde und schreiende Vögel, verschiedene Baumhörnchen, Mäuse und andere Vierfüßer, die alle ganz menschen-zahm sind. Große bunte und beige Echsen mit langem Schwanz rennen auf der Rinde der Bäume umher und keckern ab und zu. Im Umkreis um die Statue grasen ein paar Hasen und Rehe und andere, wie ich sie noch nie gesehen habe: ähnlich wie Rehe, doch mit vier langen Hörnern und einem langen wuscheligen Wedelschwanz. Kinder gehen im Spiel zu den Tieren, und auf ihre Weise sprechen sie mit einander, fassen sie sogar an, die Tiere finden das ganz richtig. Ich bin sehr erstaunt über das, was ich hier sehe: einerseits diese unordentliche Kleidung, die unordentlichen Hütten und Gärten, andererseits die schöne und – ich möchte sagen – „ordentliche“ Art, wie diese Statue, die Bäume und der Park um sie herum sehr gepflegt sind.

Auch ich will ein Reh streicheln, doch es weicht aus. Bin ich ihm zu fremd? Am Abend sagt Mûr, nein, sie spüren, daß du Gewalt in dir hast.

Später werde ich erfahren, daß auch die Ghân miteinander „ordentlicher“ umgehen als wir Rohirrim – und ordentlich heißt „schlicht“.

Ich sehe nun deutlich, was an den Buckelmännern an der gewundenen Straße nach Dunharg weggewittert ist. Diese Figur hier sitzt mit untergeschlagenen Beinen, gehüllt in ein weites verziertes Tuch – alles aus jenem dunkelblauen Fels gehauen –, auf dem Kopf gelockte Haare, die oben von einem Dutt gekrönt sind. Die Ohrläppchen sind schmal und lang und hängen herab und berühren die Schultern. Die Arme liegen im Schoß und die Hände ineinander, die rechte in der linken, die Daumen berühren sich mit den Spitzen. Schon so strahlt das Bild eine große Ruhe und Schönheit aus. Aber das Gesicht ist es, was mich am meisten berührt: die Augen sind halb geschlossen, das glatte und weiche Gesicht hat frauliche und männliche Züge zugleich, der Mund lächelt ganz leicht. In der Mitte der Stirn sehe ich ein weiteres Auge angedeutet, alles sieht sehr fremd aus; dieses Auge ist ganz offen und scheint ohne Ziel in die innere Tiefe zu sehen. Bei den Buckelmännern im Tal sind nur noch ausgewitterte Höhlen statt der Augen zu sehen, die Steine fehlen längst. Doch hier sind die Augen ganz, sie sind aus Steinen in Weiß, Braun und Schwarz gemacht. Die Lider hängen etwas herunter – ich soll noch erfahren, was das alles bedeutet.

Ich weiß nicht, wer hier abgebildet ist, und ob es Frau oder Mann ist – vielleicht beides.

Die Figur sitzt auf einem Sockel, der Blütenblättern nachgebildet ist. Ich habe diese Blüten bisher nur an großen und sehr reinen weißen Sumpfblumen gesehen, die es unten in der Tiefebene in flachen Teichen und an Grabenrändern gibt. Die Pflanzen strecken ihre Blätter und weißen Blüten – so rein weiß wie frisch gefallener Schnee – weit aus dem Wasser, man sagt: sie sind ein Symbol dafür, wie rein unsere Seele wirklich ist, obwohl sie im Sumpf, im Schmutz ihren Ursprung hat – wenn wir doch nur achtsam und liebevoll mit ihr umgingen.

Hier haben die Leute das nun in Stein ausgedrückt. Jemand sagt später, sie hätten diesen Sockel am liebsten aus weißem Stein gemacht, doch sie hätten keinen gefunden, der passt.

Die Statue und ihr Blütensitz sind aus einem einzigen großen Felsen gehauen, den es – habe ich gehört – nur unten im Tal gibt: nämlich in jenem blauen Steinbruch, der am Eingang zur Schneeborn-Klamm liegt. Obwohl der Stein sehr gut und wetterfest ist, benutzen wir Rohirrim ihn nie – wir haben eine Scheu, ihn zu benutzen, niemand weiß, warum. Wir haben Scheu, auch nur ein kleines Stück von diesem Stein aus dem Steinbruch herauszunehmen, so heilig ist es dort. Ganz gewiß ist das Material dieser Statue aus diesem Steinbruch – aber wie kommt es hierher? Die Rohirrim hätten nicht die Mittel, den Brocken hier herauf zu schaffen, die Ghân wohl noch weniger – wer dann aber? Schließlich ist diese wundersame Statue gewiß drei mal so hoch wie mein Körper und fast so breit und tief wie hoch.

Diesen Steinbruch muß ich noch beschreiben, ich habe ihn früher mal besucht: so unangenehm die Gegend ist, wo er liegt, im Bruch selbst ist es sehr schön. Es sieht so aus, als ob erst kürzlich die Steinbrecher dort gearbeitet hätten; die Oberfläche des Felsens ist nicht verwittert und sie ist so glatt und frisch wie eben bearbeitet – obwohl seit Jahrhunderten hier nichts mehr geschieht. Wo die großen und kleinen Steine herausgebrochen wurden, haben die Steinbrecher die Wand wieder geheilt: sie haben sie wieder geglättet und auch sonst geordnet. Da können Moose, Flechten und Hängeblumen wieder wachsen, und die grauen Vögel mit ihren roten Flügeln, die wir Felsenrenner nennen, flattern an den Wänden auf und ab.

Um die Statue hier im Ghân-Dorf stehen ein paar offene Hütten aus Zweigen, in ihnen sitzen ein paar Ghân in verblichene orange Tücher gehüllt, sie sitzen still und sehen aus wie die große Statue, offensichtlich haben sie von ihr gelernt. Auch Kinder sitzen hier – ganz still und in sich gekehrt. Ich sehe sie aufstehen und zum Dorf zurückgehen – sie lachen und tanzen nun und spielen miteinander, es ist als ob sie im Umkreis der Statue Fröhlichkeit aufgenommen hätten.

Die Leute sind ja so ganz anders als wir in Rohan. Wir sind dauernd beschäftigt und eilig, meistens nicht zum Lachen aufgelegt, eher zum Streit und Kampf. Wir vermehren uns zu immer mehr Rohirrim und haben Mühe, Nahrung und Brennholz heranzuschaffen um allen ein angenehmes Leben zu ermöglichen. Doch wenn du durch unsere Stadt, unser Land gehst: die Menschen sehen sehr, sehr unzufrieden aus, auch im Frieden. Ja, sie sehen krank im Gesicht aus, voller Sorgen und Schmerzen. Wir merken das gar nicht, denn wir kennen es ja nicht anders. Doch oft brechen Ärger und Zorn und Unzufriedenheit heraus, dann gibt es Niedergeschlagenheit und große Trauer – keiner weiß, warum. Die Ärzte haben ihre Vorstellungen über die Gründe, und sie haben Behandlungen und Medikamente dagegen, doch es hilft meistens nichts. Alle wissen das und verlassen sich doch auf die Künste der Ärzte.

Es ist kalt hier oben – und dennoch tragen die Leute am Tage wenig Kleidung. Nur manchmal sehe ich welche in dicke Decken gehüllt, vielleicht sind sie gerade krank oder – wie mir ein Ghân sagte – sie haben seelische Sorgen. Es ist Sommer, was sie im Winter tun, weiß ich noch nicht. Habe vor, hier länger zu bleiben, wenn es ihnen recht ist. Kommt mir so vor als ob ich bei ihnen viel lernen könnte. Im Winter soll hier in dieser Höhe viel Schnee liegen, aber der Winter ist kurz, Frühling und Herbst sind lang, der heiße Sommer ist auch kurz.

Hier haben sie etwas sehr Nützliches: durch das langgestreckte Dorf werden zwei Bäche nebeneinander geleitet, nur durch einen kleinen Wall getrennt. Der eine Bach ist kalt wie jeder Bach, der andere ist warm, er kommt aus einer heißen Quelle in der Nähe. Im Winter soll ein leichter Nebel über ihm stehen. Die Ghân schöpfen aus ihnen ihr Wasser wie sie es brauchen, kalt oder warm – eine sehr schöne Hilfe für das Leben hier in der Höhe. Die Bäche fließen in der Mitte des langen Weges, an dem die Hütten und Gärten liegen. Das Bächepaar fließt auf einem flachen Damm, der höchste Teil des Dorfes, alle Hütten und Gärten liegen seitlich tiefer. Die Leute passen auf, daß niemand, auch keine Tiere, sich direkt in den Bächen wäscht oder daraus trinkt – so bleiben sie sauber bis zum letzten Haus.

Mûr hatte mir eine Hütte gegeben, in der ich nun wohne. Ich bin schon ein paar Tage hier. Oft kommen Leute und sitzen bei mir, manchmal sprechen wir, aber meistens sitzen wir still, sehen uns in die Augen, summen oder singen etwas, streichen gegenseitig unsere Haut – wie alle es hier tun. Ich habe auch ihre Kleidung für mich übernommen – nur eine wollene Decke brauche ich fast immer, es ist mir einfach zu kalt hier oben. Und ein Feuer halte ich meistens auch in meiner Hütte und hänge eine dicke Filzdecke als Vorhang vor den Eingang, denn Türen kennen sie hier nicht.

In dieser Kleidung fühle ich mich leicht und frei – sie ist der große Gegensatz zu unserer Reiterkleidung, die überall eng am Körper anliegt und die ich deswegen nie mochte.

Wenn wir zusammen sitzen, reden wir sehr wenig – oft aber schweigen wir, und alle beobachten den eigenen Atem. Wir lassen den Atem einfach atmen, lassen ihn nach innen ziehen, nach draußen ziehen, und sehen schlicht mit halb geschlossenen Augen zu, wie es da geschieht – na ja, eigentlich geschieht nichts weiter. Besonders frühmorgens, wenn noch alle frisch und ausgeschlafen sind, treffen wir uns in Grüppchen in einer der Hütten oder davor und beobachten den Atem oder das Feuer oder die Landschaft. Erst beobachten wir, wie der Atem durch die Nasenlöcher streicht und sie kühlt, dann wie er tiefer geht und sich der Leib bewegt. Ich lerne meinen Körper kennen, wie sich die Muskeln und Gelenke bewegen, wie es im Darm rumort oder wie Muskeln im Gesicht und Nacken sich verspannen – obwohl ich dachte, ganz gelassen zu sein.

So kommt es, daß die Ghân alle so still und ausgeglichen sind – das heißt aber nicht, daß sie „mit offenen Augen schlafen“, wie bei uns die Ammen zu den Knaben sagen, wenn sie lernen sollen! Die Ghân sind dabei hellwach und beobachten alles, doch ohne darüber nachzudenken, sie sehen es einfach ohne Anstrengung, sie bemerken es.


Heft 9. DAS ERSTE FEST – DOCH SCHMERZEN IN DER SEELE; HEILUNG
Noch einiges habe ich gesehen: die große Statue sitzt ja draußen am einen, am südlichen Ende des Dorfes, etwas erhöht, und die Quellen der Bäche liegen rechts und links davon. Wenn die Statue ihre Augen ganz öffnen würde, sähen sie die Dorfstraße entlang und am anderen, nördlichen Ende eine kleine Halle, recht verfallen, aber noch im Gebrauch, sie muß mal sehr schön gewesen sein, Reste alter Holzschnitzereien sind an den Säulen noch zu erkennen. Hier feiern die Ghân ihre fröhlichen Feste.

Einmal, ich bin wohl schon zehn Tage hier, bin ich sehr traurig und verdrossen und weiß nicht einmal, woher. Das erste Fest, das ich hier erlebe, soll heute am Abend gefeiert werden. Eigentlich haben sie nicht gerne Fremde dabei, aber sie erlauben mir zuzuschauen und schließlich auch, selbst zu tanzen. Doch wie es soweit ist, habe ich keine Lust und sitze mißmutig in meiner Hütte und gefalle mir darin, mir Schmerzen zu bereiten, indem ich mich entschließe, keineswegs zu dem Fest zu gehen. So wird alles immer verdrehter in mir. Mûr kommt und will mich holen, doch ich will nicht, bin ganz düster. Mûr sieht, wie es mir geht, und daß es nicht wert ist, in dieser Stimmung zu beharren. Er kommt zurück mit einer jungen Frau und sagt: sieh mal, so schöne Menschen kommen zum Fest. Die Frau ist ganz ernst und sieht mir in die Augen, sie läßt mich wie ich bin. Wir sehen einander an, und ich werde etwas weich, dann legt sie die Hände auf meine Arme und streichelt sie ganz leicht. Ihr Ernst und ihre Zustimmung zu meinem Mißmut wandeln mich schließlich um – das ist nun ein so reines und tiefes Erlebnis, es bringt mir ein großes Stück Klarheit über mich selbst – ich könnte nicht aussprechen, was.

Die Frau sagt nämlich schließlich:
sieh mich an, bin ich nicht eine schöne FRAU? Ich bin so gerne Frau, und ich liebe es, daß es auch Männer gibt, schöne Männer – wenn sie nur nicht so ernst und mißmutig wären – oft jedenfalls. Man muß sie aufwecken, ich stelle mir vor, daß DAS meine Aufgabe im Leben ist, die Männer aufzuwecken. Erst dann kann ich mit ihnen etwas anfangen. Erst dann sind sie richtig MANN. Bin ich nicht geeignet zu dieser Aufgabe? Sieh meinen Körper an, meine Fröhlichkeit, meinen Charme – genieße das mal alles, und dann komm mit, bitte,

und sie lacht fröhlich. Das Fest fängt leise an. Viele Ghân sind da und sitzen oder stehen, sind still, ohne Bewegung, in sich gekehrt. Eine Frau sagt nun etwa dies:
Ich lade euch ein, mit mir zu tanzen und fröhlich zu sein .
Eine andere sagt verdrossen,
ich kann nicht, bin traurig. Ich möchte gerne, aber es geht mir nicht gut.

Und die erste:
magst du mal rüber zur Statue gehen, sieh sie dir an, sei ein wenig bei ihr, sieh ihr ins Gesicht. Vielleicht löst sich etwas bei dir. Magst du auch ein wenig vor der Statue tanzen? Ganz allein? Zeig Ulam wie du dich gerade fühlst. Wenn es dir immer noch nicht anders geht ... du mußt ja nicht mit tanzen, wir tanzen für dich. Doch wir möchten dich gerne bei uns sehen.

Ulam? frage ich.

Ja, Ulam ist dargestellt, Ulam ist ... na, er ist eben der Meister, der uns alles gezeigt hat.

In diesem Dorf trommelt fast immer jemand zum Feiern, und andere tanzen dazu. Heute abend tragen sie lange oder kurze Kleider und Bänder und Schmuck, bunt, umherwehend – sie haben ihren Spaß daran. Die kleinen Kinder tanzen, und auch die ganz Alten, die fast nicht mehr stehen können – dann sitzen sie eben und schwingen ihre Arme und den Körper.

Doch zuerst ist es noch still in der Halle. Langsam, langsam drehen sich ein paar, heben ein Bein gelassen und schwenken es weit hinaus, drehen sich wieder, winken mit den Armen. Bleiben wieder stehen und sind still. Wieder tanzen ein paar vorsichtig ... mit hellem wachen Blick, andere tief in sich gekehrt. Die Musik beginnt etwas später; viel Musik haben die hier nicht, aber eine leichte Trommel und später eine Flöte, Suri genannt, manchmal auch mehrere Trommeln in verschiedenen Tonhöhen nebeneinander. Die Musiker tanzen mit oder sitzen irgendwo, aber immer bewegen sie sich mit ihrer Musik. Viele Tänzer haben sich schön gemacht – aber was ist das schon bei dem wenigen, was die Ghân besitzen, meist Blumen oder eine große Feder ins Haar oder hinter die Ohren gesteckt, oder ein buntes Tuch neuerdings. Für sie ist es etwas besonderes!

Der Tanz ist eher ein Schreiten, sehr echt und tief. Am Anfang sieht es sehr gemessen, feierlich aus. Man sagt mir,
wenn wir tanzen, beobachten wir alle unsere Bewegungen, sind immer hell wach dabei, sehen und fühlen, wie sich die Gelenke bewegen, die Muskeln anspannen und entspannen, wie sich alles dreht .... Tanzen ist ein dauerndes aufmerksames Beobachten des Körpers, wer nicht aufmerksam ist, fällt hin. Doch darum geht es eigentlich nicht, sondern Tanzen ist ..., wir zeigen uns selbst und den anderen, wie sehr ich an diesem Ort und in diesem Augenblick BIN, das macht Spaß und ist genußvoll.

Ich glaube, sie tanzen aus sich heraus, haben keine besonderen Schritte oder modischen Tänze wie wir, tanzen aus dem Augenblick heraus.

Später werden die Tänzer schneller, drehen sich schneller und hüpfen hoch und weit umher, schwingen dabei die Arme wie Vogelflügel, die meisten halten jetzt ein flatterndes Tuch in den Händen, viele haben ein buntes Tuch aus dem Lamedon, und verlängern dadurch noch die Arme. Eigenartig, daß sie einander so selten berühren.

Dann stößt eine Frau einen Schrei aus und alle stehen ganz still, ohne Arme und Beine sinken zu lassen. Ich sehe erst jetzt, daß es da eine Tanzmeister-Frau gibt, die dem Tanzen eine gewisse Ordnung gibt. Sie sitzt auf einem erhöhten Holzklotz an der Wand der Festhalle. Still stehen alle, wie angefroren und zu Eis geworden. Die Tanzmeister-Frau sagt,
das ist anstrengend, bewegt euch nicht, so könnt ihr alles spüren, was bisher war in eurem Körper ...

Dann geht es weiter, und wieder eine stille Zeit, wieder Tanzen ..., und mit jedem Mal werden die Tänzer etwas schneller – bis schließlich das Tanzen sehr fröhlich und ausgelassen geworden ist. Sie sind alle ausgelassen und singen und juchzen voller Freude und springen umher. Manchmal ist aber jemand traurig oder verstimmt – dann lässt man sie sein, wie sie ist, doch geht mal jemand hin und streicht den Arm oder Rücken oder wo es sonst gut tut. Immer ist jemand da.

Und dann geht es wieder von vorne los – so geht es etwa vier bis sechs mal in einer Nacht. Viele gehen schlafen, andere kommen oder die Ersten kommen auch wieder – wie das überall so ist.

So haben´s sie hier: Zum einen das stille Sitzen – bei der Statue. Zum anderen das Leben, Arbeiten und Feiern ganz draußen – in ihrer Welt. Da könnten wir Rohirrim noch vieles lernen von diesen uralten Sitten – wenn wir nur wollten. Doch es scheint, wir in Rohan trauen uns nicht raus aus unserem Gewohnten, das andere ist so ungewohnt, vielleicht unbequem, und wir wissen nicht, warum wir das Gewohnte aufgeben sollten, sähen es nicht ein, selbst wenn wir den Tip bekämen ... Ich aber traue mich jetzt, denn ich merke, wie gut es den Ghân damit geht.

Die Statue stellt ihren großen Meister aus Urzeiten dar, er wird ULAM genannt. Das Sitzen bei seiner Statue, das Gehen ins Innere, das ist die eine Seite.

Auf der anderen Seite das Tanzen, ganz aus sich heraus kommen, ganz im Leben sein, draußen. Das Singen, laut Sein, Arbeiten, Laufen ...

So habe ich schon viel gesehen. Und dazwischen waren Gespräche – nicht viele, denn die Ghân reden nicht viel und wissen das auch nicht so in Worten auszudrücken, was sie leben – es scheint sich nicht zu schicken. Ein paar reden etwas mehr, und hiernach notiere ich immer, was ich von ihnen höre. Eher singen sie viel – wie ich es schon von den Elben und den Hobbits gehört habe (selbst habe ich ja nur hin und wieder während des Krieges die kleinen Hobbits gesehen, sie kämpfen auch kaum, abgesehen von die zwei Fürsten, die in Minas Tirith und Mordor dabei waren). Wenn ich die Texte der Lieder verstehe, schreibe ich sie auch auf. Die Lieder übrigens: sie sind ähnlich wie die Tänze: mal langsam und ausschreitend und gemessen, dann wieder schnell und etwas zu schrill und hastig. Alle singen sehr hoch, auch die Männer. Du kannst beim Singen nur mit Mühe Frau und Mann unterscheiden.

Auch die Kleidung ist nicht unterschieden zwischen Frauen und Männern. Nur die Männer tragen allerdings diesen Turban auf dem Kopf, weil er oft kahl ist, schon bei ganz jungen Männern. Sie haben lange keinen Bartwuchs, er kommt erst spät und dann nur ein paar lange weiche Haare am Kinn, die sehr schön aussehen. Und so ist es auch mit den Haaren unten am Körper: wenige, fast wie die Kinder.

Bei den Ghân kann ich Männer und Frauen im Gesicht erst unterscheiden, wenn sie älter sind. Das ist wohl auch ein Grund, daß die Frauen ihre Brüste meist unbedeckt lassen, damit man weiß ... Doch die Männer haben eine andere Körperart, sind weniger stämmig als die Frauen, sehen das ganze Leben lang eher aus wie bei uns die Jünglinge.

Zum nächsten, dem 4. Buch: http://GhaninRohanVier.blogspot.com



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